Eine heutige Interpretation der Orpheus-Legende, die Geschichte der klassischen Gitarre und ein märchenhaftes Gleichnis von Vergeltung und Vergebung – so könnte man in etwa das Sujet des Romans „Die Herkunft der Lyra“ (Originaltitel „The descent of the Lyre“) umreißen, dessen Handlung in Bulgarien des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Zwei Jahre nach seinem Erscheinen in Großbritannien und den USA ist das Buch nunmehr „zu Hause“, in den Händen der bulgarischen Leser, herausgegeben im Verlag “Enthusiast“ mit der Unterstützung des „Lekti Zentrums“ Warna.
Als der britische Schriftsteller Will Buckingham vor fast zehn Jahren zum ersten Mal nach Bulgarien reiste, ahnt er nicht, wie sehr ihn das sogenannte „magische Gebirge“ – die Rhodopen, beeinflussen werde. Die Dörfer Gela und Schiroka Laka, die Schlucht von Trigrad, die Teufelsrachenhöhle und viele Pfade durch die Rhodopen durchwanderte der Schriftsteller, wie später auch der Hauptheld seines Romans, Iwan Gelski. Warum ausgerechnet Bulgarien und das Rhodopengebirge, fragten wir Will Buckingham, der zur offiziellen Buchpremiere am 9. April nach Bulgarien kam.
„Der Grund für die Wahl Bulgariens als Handlungsort des Romans ist meinem Interesse am Orpheus-Mythos zuzuschreiben“, antwortet der Schriftsteller. „Als ich 2005 zum ersten Mal nach Bulgarien kam, besuchte ich einige Orte, an denen die Legenden um Orpheus angesiedelt sind. Da ich selbst Musiker bin, war es für mich äußerst interessant. Außerdem hatte mich seit langem die bulgarische Volksmusik mit ihren eigenwilligen Melodien und Rhythmen in ihren Bann gezogen. Im Jahr darauf kam ich wieder und war von den Orten und den Bewohnern zunehmend eingenommen. Ich kam also 2007 erneut, diesmal jedoch, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Ganze zwei Monate verbrachte ich in den Rhodopen, tauchte in die dortige Atmosphäre, Natur und die Klänge dieses Gebirges ein. Viele bulgarische Schriftsteller, wie Nikolaj Hajtow, haben in ihren Werken die Natur, die Legenden und die Musik dieser Gegend verarbeitet. Gerade ihre vielfältige Verbundenheit hat meine Neugierde geweckt.“
Will Buckingham unterhielt sich nicht nur mit den einfachen Menschen in den Rhodopen, hörte ihre Musik und sah ihre Traditionen, er tauchte auch in die Literatur ein, die einige seiner Landsleute hinterlassen haben, wie „Die Volkstrachten Bulgariens“ von Mercia MacDermott und „Monumenta Bulgarica“ von Thomas Butler. Zur Überraschung vor allem der bulgarischen Leser, „erklingen“ im Roman weder die Klänge eines Lyra oder Harfe, noch einer Fiedel oder Tambouritza, sondern die einer klassischen Gitarre. Wie gelangte ein solches Instrument in die Hände eines bulgarischen Haiducken vom Anfang des 19. Jahrhunderts und am Ende des Romans sogar in die eines unbekannten Heiligen?
„Das ist wahrlich sehr ungewöhnlich und zu Beginn standen meine Freunde in Bulgarien recht skeptisch dieser Idee gegenüber“, antwortet Will Buckingham. „Ich musste aber ganz einfach die Gitarre wählen, weil es mein Lieblingsinstrument ist. In meinen Nachforschungen bin ich auf etliche Belege gestoßen, die auf fahrende Musikanten in jener Zeit in Bulgarien deuten, so dass ich dem Haupthelden Iwan eine Gitarre in die Händen gab. Für mich stellt der Roman weniger eine Nachempfindung der Orpheus-Legende dar – es ist eher eine Variation nach einem Thema, ähnlich einer musikalischen Improvisation. Die Geschichte selbst ist sehr simpel: der Hauptheld ist ein junger Bursche, dessen Geliebte am Abend vor der Hochzeit entführt wird. Er begibt sich auf den Pfad der Rache, schließt sich einer Haiducken-Schar an und wird unnachgiebig und grausam. Gerade in diesem Augenblick taucht die Musik auf, die ihn verwandelt.“
Sieben Jahre nach seinem letzten Besuch in Bulgarien ist der Schriftsteller Will Buckingham glücklich darüber, dass sein innigster Wunsch in Erfüllung gegangen ist: sein Roman liegt übersetzt dem bulgarischen Publikum vor. „Für mich ist es eine große Freude, hier zu sein, alte Freunde zu treffen und neue Bekanntschaften zu machen. Das wird bestimmt nicht mein letzter Besuch bleiben – ich komme wieder, vielleicht um ein neues Buch zu schreiben - warum nicht,“ sagte uns Will.
Will Buckingham ist derzeit noch in Bulgarien, wo er dieser Tage einen Workshop in Warna zum Thema „literarische Eingebungen“ leitet und sich am 12. April wieder mit Lesern treffen wird.
Will Buckingham ist ein britischer Schriftsteller, Philosoph und Kinderbuchautor, der an der „De Montfort University“ in Leicester, Großbritannien, lehrt. Sein Roman „The descent of the Lyre“ gehört zu den Auswahltiteln der britischen Zeitschrift „Bookseller“ als bester Roman des Jahres 2012 und wurde für den Literaturpreis „East Midlands Book Award“ 2013 nominiert.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow