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Der Sozialanthropologe Haralan Alexandrow in einem Interview für Radio

Die Pandemie hat die Schwächen des Systems und unserer Gesundheitskultur offengelegt

Foto: BGNES

1. 250 000 Todesopfer hat die Coronavirus-Pandemie weltweit gefordert. Die Situation ähnelt einem stillen Krieg mit einem unsichtbaren Feind, der jeden Tag Menschenleben fordert. Der Kampf mit ihm findet auf dem Gebiet der Wissenschaft und Medizin statt.

Während die wohlhabenderen Länder die Krise leichter durchstehen, ist die bulgarische Gesellschaft in einem Netz von Problemen verwickelt, die die Lage zusätzlich erschweren. Die Regierung sieht die Corona-Krise immer noch als ein Gesundheitsproblem an und nicht als humanitäre, wirtschaftliche und sogar als Krise der Werte. Die Bulgaren schlagen sich irgendwie durch - jeder nach seinem Verständnis, seinen Kontakten und Möglichkeiten. Es gibt immer noch Menschen, die die Existenz des Virus leugnen.

Welche Veränderungen und soziale Erscheinungen in den letzten 10 Monaten in unserer Gesellschaft zu beobachten waren, erläutert der Sozialanthropologe Haralan Alexandrow:

„Die Krise ist noch lange nicht vorbei, wir müssen uns noch mit den wirtschaftlichen Verlusten und dem Verlust von Menschen auseinandersetzen. Leider schaffen es nicht alle, die Krankheit zu überwinden. Zunächst müssen wir die Situation unseres Gesundheitssystems, der gesamten Gesellschaft und ihre Fähigkeit, sich um die Schwächsten zu kümmern, verstehen, was wir in ruhigeren Zeiten bequem übersehen haben. Es gibt Menschen, die nicht genügend Verbindungen und Kontakte haben und vollständig von den öffentlichen Diensten abhängig sind. Und wenn diese nicht auf einem guten Niveau sind, werden diese Menschen buchstäblich zu Opfern des Systems. Das sind schwierige Dinge, die nicht nur das Management und die Leiter öffentlicher Institutionen betreffen, sondern auch die gesamte Gemeinschaft, sofern die Führungs- und Organisationskultur der Institutionen weitgehend der Kultur der Gemeinschaft folgt“, sagte Haralan Alexandrow und hofft, dass wir, obwohl wir uns jetzt wahrscheinlich in der schwierigsten Phase befinden, es mit dem Aufkommen von Impfstoffen und dem teilweisen Lockdown zu einer Veränderung der Lage kommen wird. „Das Risiko bleibt jedoch bestehen und es liegt darin, sich zu beruhigen und zu entscheiden, das der böse Traum vorbei ist und wir wieder zu unserer üblichen, sorglosen und oft verantwortungslosen Lebensweise zurückkehren können“, warnt Haralan Alexandrow und fügt hinzu, dass die sozialen Analysten die Kultur der Bulgaren ins Visier nehmen, die in Zeiten der Prüfung und Probleme deutlich in Erscheinung tritt.

„Es ist keine Neuheit, dass die Bulgaren sehr sorglos mit ihrer Gesundheit umgehen, abergläubisch sind und Weissagern, Wahrsagern und ähnlichen Propheten glauben“, entrüstet sich Haralan Alexandrow und sagt, dass die Unwissenheit eines bedeutenden Teils der Bevölkerung, insbesondere der untersten Schichten der Gesellschaft, in Bezug auf die Gesundheit, erstaunlich stark ist. „Diese Menschen weigern sich sehr oft, sich über ihre Krankheiten zu informierten und folgen dem magischen Glauben, dass wenn ich nichts über die Krankheit weiß, sie auch nichts über mich weiß“. All dies führt zu einem schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung, die alt ist und ziemlich krank. Unter den Umständen der extremen Herausforderung vor dem Gesundheitssystem und einem gewissen Chaos sind die sehr hohe Sterblichkeitsrate, die in unserem Land derzeit beobachtet wird, das Ergebnis dieses Verhaltens.

Die Pandemie hat die Schwächen des Gesundheitssystems und das Defizit einer Gesundheitskultur offengelegt. Das ist die traurige Wahrheit. Doch es gibt auch etwas Gutes. Die bulgarische Gesellschaft hat es geschafft, all ihre Ressourcen und vor allem die nicht formellen Netze zu mobilisieren. Jeder, der medizinische Hilfe braucht, setzt seine Kontakte ins Spiel und dieses Netz funktioniert. Das löst in weitem Maße das Problem mit dem unterentwickelten formalen System. Das, was sich lohnt zu analysieren, ist die Frage ist, warum die Menschen in Bulgarien mehr den persönlichen Kontakten glauben als den öffentlichen Institutionen. Dabei steht eine Massenimpfung bevor, doch diese hat nur dann Sinn, wenn eine genügende Zahl von Menschen entscheiden, sich impfen zu lassen. Das wird eine Prüfung nicht nur für die Regierung sein, inwieweit sie fähig ist, die Kampagne zu kommunizieren. Wenn wir den Weg der Selbstrettung wählen, uns der Paranoia und den konspirativen Theorien hingeben, dann werden wir persönlich scheitern. Die Krise habe bewiesen, dass wir in der Not bestehen, wenn wir die persönlichen Beziehungen und Kontakte mobilisieren“, schlussfolgert Haralan Alexandrow.

Übersetzung: Georgetta Janewa

Fotos: BGNES


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