Am 22. September des Jahres 1908 erklärte Bulgarien seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, unter dessen Herrschaft es fünf Jahrhunderte gestanden hatte. Die Unabhängigkeitserklärung erfolgte drei Jahrzehnte nach Ende des russisch-türkischen Krieges von 1877/78, der Bulgarien die Freiheit brachte.
Der Vorfrieden von San Stefano vom 3. März 1878 sah die Wiederherstellung des bulgarischen Staates in seinen damaligen ethnischen Grenzen vor. Dazu kam es aber nicht, denn die Großmächte revidierten wenige Monate später diese Entscheidung und zerstückelten Bulgarien auf dem Berliner Kongress. Das Bulgarien von San Stefano wurde in drei Teile zerrissen, wobei man nur einem Teil den Namen Bulgarien zugestehen wollte. Die Verfassungsgebende Volksversammlung des Fürstentums Bulgarien erklärte die nationale Vereinigung als eine Priorität in der Außenpolitik des jungen Staates. Die politische Lage in Europa war aber in keiner Weise günstig für die Idee einer Vereinigung. Erst 1885 ergab sich eine Chance wenigstens zwei bulgarische Landesteile zu vereinen: das Fürstentum Bulgarien und Ostrumelien. „Bulgarien blieb aber ein Vasallenstaat und durfte keine internationalen Verträge abschließen“, betont der Historiker Prof. Georgi Markow und fährt fort:
„Bulgarien musste nach seiner Neugründung ganze 30 Jahre auf seine Unabhängigkeit warten; erst mussten sich günstige Bedingungen dazu ergeben“, sagt der Geschichtswissenschaftler. „Das geschah im Sommer des Jahres 1908, als in Istanbul, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, der sogenannte Jungtürkenaufstand ausbrach. Damit war das Reich stark mit sich selbst beschäftigt. Bulgarien und speziell der Premierminister Alexander Malinow wussten die entstandene Balkankrise für sich zu nutzen und warteten nur auf einen passenden Anlass für eine Unabhängigkeitserklärung. Diesen gab Österreich-Ungarn, dass sich die Gebiete von Bosnien-Herzegowina einverleibte, die es nach dem russisch-türkischen Krieg lediglich regierte. Das war eine Verletzung des Berliner Vertrages und die Großmächte ließen ihre Wut weniger an Sofia, als an Wien aus.“
Wie regierten die Großmächte und die Hohe Pforte auf die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens, fragten wir Prof. Georgi Markow.
„Die Hohe Pforte war natürlich gegen die Verletzung des Berliner Vertrages. Doch ihr ging es eher darum, für die Unabhängigkeit etwas zu bekommen und verlangte eine Entschädigung von 600 Millionen Goldfranken“, erzählt der Historiker. „Der bulgarische Verhandlungsführer Andrej Ljaptschew handelte den Preis auf 82 Millionen herunter. Die schärfste Reaktion kam jedoch aus Russland. Zar Nikolaus II. vermutete, dass zwischen dem bulgarischen Herrscher Fürst Ferdinand I. und dem österreichischen Kaiser Franz Josef ein Vertrag abgeschlossen worden sei, der die russischen Interessen verletzen würde. Großbritannien balancierte seinerseits zwischen den Interessen Österreich-Ungarns und Russlands.“
Bulgarien gab deutlich zu verstehen, dass es wie bei der Vereinigung des Landes bereit sei, seine Entscheidung auch militärisch zu verteidigen. Es war in der Lage eine 300.000 Mann starke Armee zu stellen. Rechnete es aber ernsthaft mit einem militärischen Konflikt?
„Nach der Niederschlagung des Aufstandes am Eliastag von 1903, der in Mazedonien und dem Gebiet um Adrianopel ausgebrochen war, war man sofort an eine Umrüstung und Neuorganisierung der bulgarischen Armee herangegangen“, erzählt der Historiker. „Einen entsprechenden Plan zur Modernisierung hatte der damalige Kriegsminister General Michail Sawow vorgelegt. Man bereitete sich auf einen Angriff auf das Osmanische Reich vor; dabei sollten Aufstände in Mazedonien und Ostthrakien Rückendeckung geben. Die bulgarische Regierung und die örtlichen revolutionären Organisationen einigten sich, ihre Handlungen abzusprechen. Ministerpräsident Malinow hoffte, dass sich im Falle eines Konflikts Rumänien nicht einschalten werde, da Bulgarien und Russland 1902 eine Militärkonvention unterzeichnet hatten. Darin war festgehalten, dass sich Russland verpflichte, militärisch einzugreifen, falls Bulgarien von Rumänien angegriffen werden sollte. Serbien war seinerseits mit Österreich-Ungarn beschäftigt. Die Aufmerksamkeit der serbischen Streitkräfte war auf Bosnien-Herzegowina ausgerichtet, da man dieses Gebiet als serbisch betrachtete. Die achte bulgarische Tundscha-Division bezog Stellung an der Grenze zum Osmanischen Reich. Da schaltete sich der russische Zar ein. Russland hatte sich noch nicht von seiner Niederlage im Krieg gegen Japan erholt und wollte auf jeden Fall einen Konflikt auf dem Balkan vermeiden. Zar Nikolaus II. trat als Vermittler zwischen Bulgarien und dem Osmanischen Reich ein. Nachdem die Summe bereits auf 82 Millionen Goldfranken heruntergehandelt worden war, beanspruchte sie Russland für sich, weil die Hohe Pforte die Entschädigungszahlungen für den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 noch nicht restlos gezahlt hatte. Bulgarien wurde für die 82 Millionen ein niedrigverzinster Kredit mit einer Laufzeit von 30 Jahren gewährt.“
Hat Bulgarien diesen Kredit abgezahlt?
„Nein“, antwortet Prof. Georgi Markow. „Ich scherze immer und sagte, dass wir dem Bolschewismus in gewisser Weise dankbar sein müssen, weil er uns die Schuld erlassen hat; Bulgarien hat lediglich rund zwei Millionen Goldfranken gezahlt. Unser Land beteiligte sich 1915 am Ersten Weltkrieg und mit dem Einfall in Serbien wurden die Zahlungen eingestellt. 1917 erklärte Lenin, dass Sowjetrussland die Schulden gegenüber Frankreich und England nicht zu zahlen bereit sei. Gleichzeitig damit erhebe es keine Ansprüche auf erteilt Kredite des Zaristischen Russlands.“
Welche Veränderungen folgten aus dem neuen Status Bulgariens, fragen wir abschließend den Historiker.
„Bulgarien hatte von da an das Recht, politische und Militärbündnisse einzugehen“, sagt Prof. Georgi Markow. „Das bulgarische Parlament durfte ferner eigenständig sein Staatsoberhaupt bestimmen, das von da an wieder den alten bulgarischen Herrschertitel „Zar“ annahm. Das Ansehen Bulgariens stieg und es verwandelte sich in einen Faktor in der Region.“
Deutsche Fassung: Wladimir Wladimirow
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