Der lateinische Spruch „De mortuis nil nisi bene dicendum“ (Über die Toten sollst du nichts, oder nur Gutes reden) gilt in Bulgarien leider voll und ganz auch für das Bildungssystem. Der heutige erste Schultag wird von der Bildungsreform überschattet, die am 1. August mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes über die Vorschul- und Schulbildung wirksam geworden ist. Die Reform an sich war schon lange fällig, es steht jedoch die Frage, ob sie etwas bringen wird. Viele befürchten, dass die strukturellen Veränderungen die Aufmerksamkeit vom Inhalt ablenken werden.
Bulgarien hat sich nach der Wende von einem Land mit ausgezeichneten Bildungstraditionen in einen Bildungssumpf verwandelt, denn ständig wurde mit neuen Lehrplänen, Schulbüchern und verschiedenen Bildungsmodellen herumexperimentiert. Im Ergebnis hat sich u.a. eine Kluft im Wissensstand der Kinder in Stadt und Land gebildet. Die Kinder sozialschwacher Schichten bleiben auch in der Bildung immer mehr zurück. Allein im vergangenen Schuljahr haben 3.900 Kinder vorzeitig die Schule verlassen. Das glänzende Abschneiden bulgarischer Schüler auf internationalen Mathe- und Informatikolympiaden ist lediglich ein bitterer Trost, denn diese Ergebnisse sind eher die Ausnahme und lassen sich auf den Enthusiasmus einiger Lehrer und Schüler zurückführen.
Neu im Bildungssystem ist nun, dass die Grundschulbildung nicht wie bisher mit der 8. Klassen, sondern bereits mit der 7. Klasse als beendet gilt. Ferner werden selbstständige Formen der Ausbildung zugelassen. Die staatlichen Hilfen zur Gewährleistung gleicher Startchancen in der Bildung bleiben bestehen, die ohnehin mageren Zuschüsse für die Schulen sollen aber nun auch an private Bildungseinrichtungen verteilet werden. Zur Förderung von begabten Kinder werden Gelder aus dem operationellen Programm „Wissenschaft und Ausbildung für ein intelligentes Wachstum“ vorgesehen. D.h. es werden die aus der sozialistischen Vergangenheit wohl bekannten Arbeitsgemeinschaften an den Schulen wieder eingeführt, allerdings mit dem Unterschied, dass sie (wie alles in der EU) befristet sind, in diesem Fall auf 29 Monate.
Welche Erwartungen knüpft man an die Bildungsreform? Mit dieser Frage wandten wir uns an die Biologie-Lehrerin Theodora Welewa.
„Auf alle Fälle wird die Schreibarbeit bedeutend mehr werden“, klagt sie. „Es wird ein Wust an Dokumenten verlangt und die Kinder werden zwangsläufig ins Hintertreffen geraten.“
Das neue Gesetz setzt einen Akzent auf die sogenannten „Schlüsselkompetenzen“. Wird das den jungen Menschen bessere Realisierungschancen eröffnen?
„Die Schlüsselkompetenzen haben in der Ausbildung bereits vordem eine Rolle gespielt“, meint die Lehrerin. „Das Problem ist, dass wir nicht vorbereitet wurden, darauf abzuzielen. Viele Lehrer wurden nach älteren Methoden ausgebildet und die organisierten Weiterbildungslehrgänge schossen am Ziel vorbei. Alles wurde nur formell gemacht, um etwas abrechnen zu können und man schmiss das Geld sinnlos heraus.“
„Wir sind genötigt, uns selbst weiterzubilden“, sagt Theodora Welewa weiter. „Ich meinerseits muss allein nach neuen Dingen Ausschau halten, die ich den Schülern vermitteln kann.“
Ein weiteres großes Problem sind die unangemessenen Bewertungskriterien für das Wissen der Schüler.
„Das Wissen der Schüler wird mittels Tests ermittelt“, erzählt die Biologie-Lehrerin. „Wenn sie sich auf die Tests vorbereiten, lernen sie nicht, ihr Wissen in schriftlicher Form wiederzugeben. In der schriftlichen Abiturprüfung in Biologie gab es bislang noch eine Frage, die zusammenhängend beantwortet werden musste. Nun fällt auch sie weg und die Prüfung ähnelt mehr einem Lotto – man setzt nur Kreuzchen hinter die richtigen Antworten. Sie werden im Ausschlussverfahren ermittelt, oder erraten.“
Das sei aber nicht das einzige Problem. Theodora Welewa setzt fort:
„Die Medien verbreiten lediglich negative Meldungen – sie sind auf Sensationen aus: in welcher Schule hat sich eine Schlägerei ereignet und wie schlecht sind doch die Teenager von heute. In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass es keine schlechten Kinder gibt. Es gibt schlechte Erwachsene. Die Teenager sind auf der ganzen Welt gleich. Ihre Energie muss in die richtigen Bahnen gelenkt werden, auf etwas, das für sie interessant ist, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen.“
Theodora Welewa versucht die Distanz zwischen Lehrer und Schüler zu verringern; sie spricht mit ihnen offen über die Dinge, die sie bewegen. Die Biologie-Lehrerin gehört jedoch zu den bescheidenen drei Prozent der Lehrer im bulgarischen Schulwesen, die jünger als 35 Jahre sind. In ihrer Schule gehört sie zu den Lieblingslehrern und ihre Schüler besuchen nicht nur gern ihre Biologie-Stunden, sonder auch ihre Kurse in Erste Hilfe, die sie außerschulisch organisiert. In Punkto Erziehungsarbeit müsste sich das Bildungswesen vor allem an Lehrern, wie Theodora Welewa orientieren und ihren Stimmen Gehör schenken. Die EU-Fordergelder sollten als Mittel und die Bildung selbst als Ziel angesehen werden. Allein das wäre ein großer Schritt vorwärts.
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
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