Im Jahre 1985 stieß man bei der Verlegung von Straßenbahngleisen im hauptstädtischen Wohnviertel Slatina auf Überreste längst vergangener Zeiten. Es begannen archäologische Ausgrabungen, die ergaben, dass sich an dieser Stelle eine Siedlung aus der Frühsteinzeit befand. Bereits am dritten Tag gelang es dem Team von Wassil Nikolow ein Gebäude freizulegen, das sich als das größte ganz Europas aus dem 6. vorchristlichen Jahrtausend erwies.
Seit den ersten Entdeckungen wird im Areal immer wieder gegraben, auch in diesem Jahr. Der mittlerweile zum Professor ernannte Wassil Nikolow ist zu der Überzeugung gelangt, dass diese Stelle einer der Orte ist, an denen sich die erste europäische Zivilisation entwickelt hat. Hierher waren Menschen aus Vorderasien eingewandert, die sich vor allem mit Ackerbau und Viehzucht befassten und wahrscheinlich Ende des 7., Anfang des 6. Jahrtausends vor Christus wegen verschlechterter klimatischer Bedingungen ihre Urheimat verlassen haben.
„Vertrieben durch diese Veränderungen wanderten sie entlang der Ägäis zur Balkanhalbinsel und gelangten über die Täler der Flüsse Struma, Mesta und Wardar in den zentralen Teil und später in den östlichen Teil der Halbinsel“, erzählt der Archäologe. „Sie ließen sich natürlich auch in Thessalien und dem heutigen Nordgriechenland nieder. Und so entfaltete sich im 6. und 5. Jahrtausend vor Christus eine Kultur, die als erste europäische Zivilisation bezeichnet werden kann. Hier veränderte sich jedoch ihre ursprüngliche Kultur; die Menschen passten sich an die örtlichen klimatischen und Naturgegebenheiten an. Ihre hiesige Kultur wies bereits gravierende Unterschiede zur zeitgleichen Kultur in Kleinasien auf.“
Und so entwickelten sich in der Kupfer-Steinzeit auf heute bulgarischem Gebiet einige interessante Zentren. Genannt sei das Gebiet der heutigen Stadt Prowadija, wo sich einst das älteste Salzgewinnungszentrum an den Seen von Warna am Schwarzen Meer befand. In Warna selbst entdeckte man eine kupfer-steinzeitliche Nekropole, in der das älteste von der Menschheit bearbeitete Gold gefunden wurde. Die Funde zeugen von einer gut entwickelten sozialen Struktur. Prof. Nikolow bestätigte, dass es sich um die erste derart differenzierte Gesellschaft in Europa gehandelt hat.
Zurück zu den Funden im Sofioter Viertel Slatina. Welche Schlussfolgerungen können aus ihnen über die Menschen von damals gezogen werden?
„Die Menschen waren Ackerbauer und Viehzüchter“, sagt der Archäologe. „Was sich jedoch von den anderen zeitgleichen Siedlungen unterscheidet, ist die gut entwickelte Architektur. Ich war damals schon stark überrascht, als wir 1985 auf die Überreste eines Hauses stießen, das eine Fläche von immerhin 117 Quadratmetern einnimmt. Das überrascht jeden Experten. Dieses Gebäude ist übrigens in die Lehrbücher etlicher europäischer und anderer Länder eingegangen. Man kann sich leicht vorstellen, wie groß unsere Freude war, als wir in diesem Jahr im gleichen Ausgrabungsfeld auf die Überreste zweier weiterer Häuser stießen, die sogar noch größer waren. Das eine davon ist bereits vollständig erforscht. Es erstreckt sich auf einer Fläche von über 140 Quadratmetern. Das zweite ist noch nicht vollständig freigelegt – wir schätzen seine Größe auf etwa 160 Quadratmeter. Es ist erstaunlich, dass die Menschen Ende des 7. Jahrtausends vor Christus, d.h. vor über 8.000 Jahren bereits solche Fertigkeiten besaßen, um solch große Häuser zu errichten. Es handelte sich um eine Fachwerkarchitektur mit Holzpfosten, die das Dach trugen. Das Dach selbst war recht kompliziert und kann als Satteldach bestimmt werden. Dem Dach kommt bekanntlich eine große Bedeutung für den Erhalt des gesamten Bauwerks zu. Eines der von uns erforschten Häuser besteht aus drei gleichgroßen Räumen. In jedem Raum befanden sich ein kuppelförmiger Backofen, eine Arbeitsfläche zur Nahrungsherstellung, ein Mahlstein und gleich mehrere Kornspeicher. Wir fanden sie voller verkohlter Körner. Das Haus wurde nach einem Brand verlassen.“
Laut den Archäologen könnte dieser Brand soziale oder religiös-mythologische Ursachen haben. Alle drei entdeckten Häuser gehören ein und derselben Siedlung an; sie liegen 30 bis 35 Meter auseinander. Dazwischen könnten sich weitere Häuser befunden haben, die noch auf ihre Freilegung warten.
Prof. Nikolow sagte uns, dass die Idee diskutiert wird, gemeinsam mit der hauptstädtischen Gemeinde und der Akademie der Wissenschaften die steinzeitliche Siedlung wieder aufzubauen, so wie sie einst ausgesehen hat. Das sei dank des guten Erhaltungszustandes der Hausreste möglich. Die Häuserwände, die aus einem Gemisch aus Stroh und Ton bestanden, sind nämlich beim Brand erhärtet und daher gut erhaltengeblieben. Es könnte ein Steinzeit-Park eingerichtet werden, der das Leben von einst verdeutlicht. Das wäre besonders für die Kinder interessant, die auch die original nachgebauten Gegenstände in die Hand nehmen können. So würden sie eine bessere Vorstellung vom Leben in der Steinzeit erhalten und erfahren, dass sich auf heute bulgarischem Gebiet die Wiege der europäischen Zivilisation befunden hat.
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
Fotos: Wikipedia
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