Wie die meisten anderen Volksliedinterpreten, hat auch Olga Borissowa ihre ersten Lieder von den älteren Frauen ihres Dorfes gelernt. „Sie sangen einfach herrlich – aber auch heute noch gibt es Sängerinnen mit sehr guten Stimmen, denen überhaupt nicht in den Sinn kommt, berufsmäßig Volksmusik zu betreiben“, gesteht Olga Borissowa. Sie hat aber diesen Schritt getan und damit beigetragen, die bulgarische Musikfolklore auch im Ausland zu popularisieren. Dutzende Länder hat sie besucht, größtenteils auch als Sängerin des Chores „Das Mysterium der bulgarischen Stimmen“.
„Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir die Volksmusik alles gegeben und mir alles beigebracht hat“, sagt die heute 74jährige Sängerin. „Die Folklore ist meiner Ansicht nach genial und ewig zugleich. Ich bin jeden Tag dem Schicksal dafür dankbar und überglücklich, dass ich den rechten Weg im Leben gefunden habe.“
Olga Borissowa wurde im Dorf Schelentzi nahe der westbulgarischen Stadt Kjustendil geboren. Sie hat einen langen Weg von dem selbst in Bulgarien so gut wie unbekannten Dorf bis auf die bedeutendsten Weltbühnen Europas, Amerikas, Asiens und Afrikas hinter sich.
„Im Gymnasium in Kjustendil beschäftigte ich mich mit Schauspiel und wollte Schauspielerin werden“, erinnert sich die Sägerin. „Ich bekam jedoch eine Einladung, mich an einem Vorsingen in Sofia zu beteiligen. Meine Aufregung war riesig, denn ich hatte außer meinem Dorf und der Kleinstadt, in der ich lernte, nichts anderes gesehen. Woher ich den Mut aufbrachte, weiß ich nicht, aber ich setzte mich in den Zug und fuhr in die Hauptstadt, die mir als etwas unerreichbares erschien. Das war 1960. An dem Vorsingen, das im Rundfunk stattfand, beteiligten sich etwa 250 Sängerinnen. Man nahm mich und der Bulgarische Nationale Rundfunk wurde mein zweites Zuhause. Ich konnte zwar gut singen, musste aber feststellen, dass ich im Folklorechor, in dem ich mitwirkte, noch viel lernen musste.“
Aus diesem Chor ging rund zehn Jahre später „Das Mysterium der bulgarischen Stimmen“ hervor, mit dem Olga Borissowa die ganze Welt bereiste.
„Der Weg war weder einfach, noch ging alles so glatt, wie man meinen möchte“, sagt die Volksliedsängerin. „Es gab Tränen, Unzufriedenheit, aber auch große Ambitionen. Ich muss aber sagen, dass die angenehmen Ereignisse doch in der Mehrzahl waren. Die Lieder haben mir die Möglichkeit gegeben, mit dem Publikum in vielen Ländern auf den verschiedensten Kontinenten in Kontakt zu treten. Das sind Augenblicke, in denen ich mich stolz gefühlt habe, Bulgarin zu sein und in denen ich erkannt habe, wie zeitlos doch unsere Lieder sind.“
In der heutigen Zeit ist jedoch die Folklore nicht mehr das, was sie einst gewesen ist.
„In den letzten Jahren haben sich viele Dinge verändert“, bestätigt Olga Borissowa. „Ich habe nichts gegen die verschiedenen neuen Musikstile; es hat sich aber so einiges im Wertesystem verändert. Früher gab es in jedem Dorf ein Kulturhaus mit Folkloregruppen; man hatte noch echte alte Trachten und Volksmusikorchester. In den Jahren ging aber alles verloren. Seit einiger Zeit habe ich aber erneut Hoffnung geschöpft. Ich beteilige mich als Jurimitglied an den verschiedensten Festivals im ganzen Land und muss sagen, dass es unwahrscheinliche Talente gibt. Das gibt mir die Gewissheit, dass unsere Folklore nicht aussterben wird. Wir Bulgaren können die Welt vor allem mit unserer Folklore beeindrucken. Von der Bühne aus habe ich häufig Tränen in den Augen der Zuschauer gesehen und am Anfang konnte ich diese Gefühlsregung nicht so recht verstehen. Einmal fragte ich eine Konzertbesucherin, warum sie denn weine. Ihre Antwort hat mich zum Nachdenken bewegt. Sie sagte mir nämlich: „Die bulgarischen Volkslieder machen mich gefühlvoller. Wenn ich ihre Gesänge höre, kommt in mir der Wunsch auf, ein besserer Mensch zu werden.“ Als sie das sagte begriff ich, dass unsere Volksmusik eine besondere Energie ausstrahlt und die Herzen der Menschen erreicht. Ich bin davon überzeugt, dass sie die Zeiten überdauern wird. Ich bilde mir ein,“ sagt weiter die Sängerin,“ dass es unsere Aufgabe ist, unsere Volklieder zu erhalten und zu popularisieren. Wir müssen sie vor allem so bewahren, wie wir sie von unseren Vorfahren gelernt haben. Mögen die Jüngeren neue Dinge schaffen und experimentieren – sie müssen ihrerseits aber auch das Geschaffene hüten. Die Zeit ist unerbittlich und nur das Wahre wird erhalten bleiben.“
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
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