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Randnotizen zwischen den Jahren

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Zwischen den Jahren kommt die Zeit der Rückblicke, wenn man auch vorausblicken darf. Und so scheint sich eine Prognose zu bestätigen, die bereits 2007 aufgestellt wurde. 2007 brachte sie ein Schmunzeln auf die Gesichter. Heute aber sorgt es eher für besorgte Minen, wolle man dem Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz glauben, dass das ablaufende Jahr das schwierigste ist, an das er sich zurückerinnern kann. Zitat: "Europa steht vor dem Abgrund. Die Zerfallgefahr ist groß. Wir sollten uns keine Illusionen machen. Diejenigen, die die Europäische Union rückabwickeln wollen und einen absoluten Vorrang des Nationalen vor einem gemeinsamen Vorgehen anstreben, gewinnen Wahlen, ziehen ins Parlament ein und sogar in Regierungen. Das ist dramatisch."

Wir fügen hinzu, das war in einer bulgarischen Satirezeitung bereits 2007 abzusehen, wo es hieß:

2007 – Bulgarien und Rumänien treten der EU bei.

2015 – Kroatien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und die Türkei treten der EU bei, gefolgt von Albanien, Kosovo und Serbien.

2018 – Zum ersten Mal stellt Bulgarien den EU-Ratspräsidenten. Er verteilt hohe Posten in der EU-Kommission an seine Frau, Verwandte, Nachbarn und Freunde.

2022 – Die EU-Beamten aus den Balkanländern machen 60 Prozent der EU-Verwaltung aus. Die EU-Verwaltung verdoppelt die Gehälter der EU-Beamten, schafft flexible Arbeitszeiten. Wegen Stress am Arbeitsplatz melden sich jährlich 90 Prozent der Beamte krank. Die kranken Verwaltungsmitarbeiter bauen den Stress auf den Kanaren und in den Alpen ab. Einer neuen EU-Richtlinie zufolge zahlt bei Krankmeldungen ausschließlich der Arbeitgeber. Im Falle der EU-Beamten – die EU.

2025 – Die EU-Beamten aus den Balkanländern machen 90 Prozent der EU-Verwaltung aus.

2026 – Die sprunghaft gestiegenen Ausgaben der EU-Verwaltung erfordern drastische Kürzungen. Allen belgischen EU-Beamten werden gekündigt.

2028 – Serbien übernimmt zum ersten Mal der EU-Ratsvorsitz. Im gleichen Jahr tritt Deutschland aus der EU aus. Kurz darauf folgen die Austritte Frankreichs und Finnlands. Bis Ende des Jahres treten auch Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden, die Niederlande, Luxemburg, Italien, Spanien, Portugal, Österreich, Tschechien, Lettland, Litauen, Estland und Slowenien aus der EU aus. Diese Länder führen strengste Visapflicht für die EU-Länder ein.

Und während dieses Szenario einer bulgarischen Satirezeitschrift die internationale politische Bühne betrifft, spielte im ablaufenden Jahr auf der heimischen politischen Leinwand ein Streifen, den wir alle schon mal gesehen haben. "Reform" scheint das magische Wort des Jahres (und nicht nur dieses Jahres) gewesen zu sein. Parteien, Bildung, Gesundheit, Justiz, Polizei, Renten, Wirtschaft – alles wird reformiert. Und alles befindet sich nach wie vor in einem Stadium des Zerfalls, den wir seit Jahren am eigenen Leib erleben. Dabei hat 2015 als ein optimistisches Jahr begonnen, mit neuer Regierung und scheinbar überwundener Spaltung in der Gesellschaft. Am Ende des Jahres ist man schlauer und stellt leider fest, dass wir uns mächtig getäuscht haben. Denn wir haben immer noch Grundbegriffe nicht begriffen, die – so sah es aus – die Katharsis der Regierungsproteste von vor anderthalb Jahren getragen haben.

So ein Grundbegriff ist "Partei". Die Parteien werden in Bulgarien nach wie vor wie eine Art Altersvorsorge begriffen, wo man zunächst mit den eigenen Idealen und Prinzipien einzahlt, um irgendwann auf der obersten Schicht des Abschaums mitschwimmen zu dürfen. Die Parteien in dieser Form, die die einzige ist, die wir kennen, haben mit dem Demokratieverständnis nichts zu tun. Keine einzige von ihnen ist ein Bündnis von Menschen mit gleichen Ansichten und Interessen.

Und wenn schon von Demokratie die Rede ist: die Demokratie ist nicht jenes gerechtes Leben an sich, das wir alle leben wollen. Die Demokratie ist lediglich das Regelwerk dazu. Sie ist eine Mentalitätssache. Es reicht nicht aus, sich als Demokrat auszugeben, um unabhängige Medien und Justiz zu haben. Man muss sie schaffen, aber auch pflegen. Die Demokratie garantiert lediglich, dass die Medien jeden Verstoß gegen die Gesetze melden, und dass das Gericht jeden Verstoß gegen die Gesetze bestraft. Die Pflege dieser Regel liegt in den Händen der Bürger.

Bürger zu sein, ist in einem bettelarmen Land nicht gerade einfach. Wenn man arbeitslos ist und die Zukunft der eigenen Kinder nur fern weg von Zuhause sieht, fällt es schwer, über Demokratie und Bürgerrechte zu philosophieren. Aber man tut es schon. Nur am falschen Platz – zu Hause oder in der Kneipe, beim Schopskasalat und Schnaps. Dann zitiert man Kurt Tucholsky gern, der mal gesagt haben soll: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten". Tucholsky lebte aber in einer anderen Zeit. Hoffentlich erinnert sie nicht zu sehr an die unsere.

Zwischen den Jahren ist eine besinnliche Zeit. Ob in Bulgarien oder in ganz Europa – man müsste sich darauf besinnen, wo und wie wir zusammen leben möchten. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Auch, wenn die Bulgaren (und alle Osteuropäer) sie schon immer als eine Geldverteilungsmaschine aufgefasst haben, die uns zu einem besseren Lebensstandard verhilft, ist dieses imaginäre bessere Leben ohne die Verinnerlichung unserer Werte nicht möglich.



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