Die orthodoxe Kirche hat vier bedeutende Fastenzeiten. Die erste im Jahr ist die sog. große Fastenzeit. Sie beginnt sieben Wochen vor Ostern und dauert bis Ostersonntag - insgesamt 50 Tage. Danach folgt die Apostel-Fastenzeit vom ersten Sonntag nach Pfingsten bis zum Tag der Heiligen Peter und Paul am 29. Juni. Die Länge dieser Fastenzeit hängt vom Osterdatum ab – je später im Jahr Ostern ist, desto kürzer die Apostel-Fastenzeit. Zwischen dem 1. und dem 15. August folgt dann die Mariä-Entschlafung-Fastenzeit. Die nächste große Fastenzeit ist vor Weihnachten. Sie beginnt am 15. November und dauert bis zum ersten Weihnachtstag. Deshalb fällt das Abendmahl am Heiligabend in die Fastenzeit.
Es muss betont werden: Fasten ist keine Diät. Der eigentliche Sinn des Fastens besteht darin, nicht nur den Körper, sondern vor allem den Geist zu reinigen und zu entgiften. Man sollte alle bösen Gedanken vertreiben, seinen Zorn zähmen, nicht lügen und auf sämtliche Gelüste verzichten. Wer alles richtig macht, soll sich nach dem Fasten geistig und körperlich viel wohler fühlen. Man wird gelassener, ausgeglichener und gesünder.
Erinnert sei an die Worte des heiligen Johannes Chrysostomus: „Die Enthaltsamkeit von Speisen und das Fasten fordert Er nicht um ihrer selbst willen von uns, etwa, damit wir ohne Speise bleiben, sondern damit wir uns von den Geschäften dieses Lebens loslösen und all unsere Muße auf geistige Dinge verwenden... Das Fasten ist die Speise der Seele. Wie die körperliche Speise stärkt, so macht das Fasten die Seele kräftiger und verschafft ihr bewegliche Flügel, hebt sie empor und lässt sie über himmlische Dinge nachdenken. Wie leichte Fahrzeuge das Meer schneller durchqueren, schwerbelastete Schiffe aber untergehen, so macht das Fasten die Gedanken leichter.“
Die Gedanken werden zudem in die richtige Richtung gelenkt und auf das bevorstehende Fest vorbereitet. Zum Fasten gehört allerdings auch, dass man sich ausgelassener Feiern mit Tänzen enthält, denn das Tanzen wird zu den körperlichen Genüssen gezählt.
Laut Geschichtswissenschaftlern haben sich unsere Vorfahren bereits vor der offiziellen Annahme der christlichen Religion im 9. Jahrhundert aus bestimmten Anlässen verschiedener Speisen und Getränke enthalten. Diese heidnischen Bräuche gingen dann in den christlichen Alltag ein, wobei einzelne alte Vorstellungen und Bräuche von vorchristlicher Zeit bis heute erhalten sind. Die heidnischen Enthaltsamkeiten hatten verschiedene Gründe. Einerseits rührten sie vom landwirtschaftlichen Kalender her, wenn zu einer bestimmten Jahreszeit die Vorräte einiges Produkts bereits verbraucht waren. Andererseits war es Brauch, vor Opferzeremonien Enthaltung zu üben. Da die Festtafel, an die man sich nach erfolgter Zeremonie begab, reich gedeckt wurde, war es üblich, dass man sich vordem gerade jener Speisen enthalten musste, die je nach Fest dann aufgetischt wurden.
Traditionell kommt dem Fasten ein tiefer geistiger Sinn zu. Die Enthaltung stärkt den Geist, Zeiten der Entbehrung besser durchzustehen. Man sah sich den Naturgewalten (oder Göttern) schutzlos ausgeliefert – man konnte ihnen nur mit einem starken Geist entgegentreten. Im Fasten sah man eine ganz persönliche Opferung – man sagte sich vom Irdischen und Vergänglichen los. In christlicher Zeit meinte man entsprechend, dass das Fasten Propheten zeuge. Die physische und geistige Fast hilft aber auch den ganz gewöhnlichen Menschen, die verschiedene Probleme haben, so dass viele Priester auch außerhalb der Fastenzeiten die Enthaltung von Speisen und Genüssen empfehlen. Das ist nichts Neues, denn bereits der alte Hippokrates legte seinen Mitmenschen ans Herz: „Heile ein kleines Weh eher durch Fasten als durch Arznei“.
Deutsche Fassung: Wladimir Wladimirow
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