Gestern Abend kamen wieder Tausende auf dem Unabhängigkeitsplatz in Sofia zusammen, um gegen die Regierung Orescharski zu protestieren. Na ja, die Tage der Regierung sind gezählt, aber heißt das automatisch, dass die Proteste die Regierung zum Sturz gebracht haben? Ganz sicher nicht. Die Regierung geht, weil die politische Elite es so will. Zufällig ziehen die demokratisch gesinnten Bulgaren und die politische Elite in diesem Punkt an einen Strang.
Als sich am 14. Juni 2013 mehrere Tausend aufgebrachte Sofioter vor dem Regierungsgebäude in der Hauptstadt spontan versammelten, hatten sie einen ganz konkreten Feind vor Augen – Deljan Peewski, den dubiosen Medienmagnat, der mit seinen zarten 33 Jahren ein Riesenimperium besitzt, der kein Pardon kennt und unbedingt Geheimdienstchef werden wollte, um mit den Mitteln der Geheimdienste der Vorgängerregierung „einen auszuwischen“.
Peewski trat zurück, die Protestierenden blieben aber Abend für Abend auf den Straßen. Denn mit der Zeit generalisierte sich das Feindbild – man war über Peewskis Ernennung empört, weil man von den Mafiamachenschaften in Politik und Wirtschaft endgültig die Nase voll hatte. Die monatelangen Regierungsproteste werden von vielen in Bulgarien als die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft zelebriert. Jede Geburt ist schwer und Komplikationen sind nie ausgeschlossen.
Die Komplikationen traten fast zeitgleich mit den ersten Wehen auf – zum regierungsgegnerischen Protest gesellte sich ein Protest gegen die Regierungsgegner. Bulgarien kommt wohl von seinem Schicksal nicht weg, stets zweigeteilt zu sein. Gespaltet hat sich hierzulande bereits einmal die Kirche, dann die Antikommunisten, später die Sozialisten, und schon immer gespalten waren die Bürger. In der Nachwendezeit gab es ein einziges Ziel, dass alle (oder fast alle) vor Augen hatten – den EU-Beitritt.
Nachdem die Mitgliedschaft 2007 erreicht wurde, irrt das Land umher. Nun verfiel die Gesellschaft wieder in die Politikverdrossenheit, wie die niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen zeigt. Auch, wenn die Unterstützung für die Einführung der Wahlpflicht kontinuierlich steigt, ist diese umstritten demokratische Maßnahme kein Allheilmittel. Mit Verpflichtungen „von oben“ hat man selten etwas erreicht. Die Überzeugung, dass man an den politischen und demokratischen Prozessen in seinem Land teilnehmen muss, muss von innen kommen. Bis es in Bulgarien soweit ist, wird es vermutlich noch Jahre dauern. Man darf nie vergessen, dass 25 Jahre Demokratie nach 45 Jahren Diktatur nicht von heute auf morgen wegzuwischen sind. Bedenke man dazu, dass die Wende in Bulgarien auch „von oben“ kam. Aber das ist ein anderes Bier.
Auf der gestrigen Demo gab es zwar meist fröhliche Gesichter zu sehen, die Menschen sind sich allerdings bewusst, dass nicht ihr monatelanges Ausharren auf den Straßen die verhasste Regierung zum Rücktritt gezwungen hat. Die Entscheidung dafür traf die politische Elite, weil es ihr gerade so passt. Die Bürger haben die Politik bei den Europawahlen abgestraft, indem sie einfach zu Hause geblieben sind.
Die nun aktuell geforderte Wahlpflicht wird daran nicht viel ändern können – der Staat droht mit Geldstrafen, wenn man nicht wählen geht, aber der Staat kann nicht einmal seine Steuern eintreiben, geschweige denn die Wahlstrafe. Die Wahlpflicht, sollte sie denn kommen, wird die Menschen mit Sicherheit nicht überzeugen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Überzeugungskraft haben die Ideen. Und Ideen sind in Bulgarien dieser Tage Mangelware. Das Einvernehmen der Parteien allerlei Couleurs über die Opferung der jetzigen Regierung über den Köpfen der Bürger hinweg wird die Bürger in ihrer Überzeugung nur noch stärken, dass von ihnen in diesem Land nichts abhängt.
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