Wahltourismus, Stimmenkauf und Wahllotto – all das haben wir in den knapp 25 Jahren demokratischer Entwicklung Bulgariens schon gesehen. Dass Menschen busweise in bestimmte Wahllokale gekarrt werden, um das Kästchen für eine bestimmte Partei anzukreuzen; dass Roma ihre Stimme für 'n Appel und 'n Ei verkaufen; dass Gewinnspiele unter den Wählern organisiert werden, um die Wahlbeteiligung zu heben, wobei Letzteres fast schon edel klingt. Das alles hat Bulgarien bei Wahlen schon erlebt.
So gesehen war der Wahlkampf für die EU-Wahl am Sonntag richtig fad. Die Politikwissenschaftler und Soziologen meinen, würde man nicht das Europaparlament, sondern die Volksversammlung in Sofia wählen, würde es nicht viel anders gewesen sein. Es gab keine Geheimdienstinformationen, die künftige Abgeordnete in Schach halten sollten, wie es in all den langen Jahren der Demokratie nach 1989 gab. Es gab auch keine allzu drastischen öffentlichen Beschimpfungen der Politiker, die von der Presse hochgetrabt werden, wie es sich für die vorausgegangenen Wahlkämpfe gehörte. Es sieht also alles danach aus, dass die Wahlbeteiligung der politiküberdrüssigen volljährigen Bulgaren niedrig ausfallen wird.
Die niedrige Wahlbeteiligung in Bulgarien rührt nicht etwa von der EU-Skepsis der Bulgaren her. Ganz im Gegenteil – Bulgarien gilt als eines der EU-freundlichsten Länder überhaupt. Die Abneigung, zur Wahlurne zu gehen, hat einen anderen Ursprung, und ob EU-Wahl oder Parlamentswahl ist, spielt dabei keine Rolle. Es sind die sonderbaren Nebenerscheinungen, wie Wahltourismus und Stimmenkauf, die jeden halbwegs intelligenten Menschen nicht in den Kopf gehen. In der Vorwahlwoche strahlte ein privater Fernsehsender eine Reportage aus einer Bergbaumine aus. Mit versteckter Kamera wurde gefilmt, wie bei einer Betriebsversammlung den Kumpeln angeraten, bzw. angedroht wurde, eine bestimmte Partei zu wählen. Sonst gebe es keine Gehälter und keine Boni. Im kleinen Bergbaudorf kennt jeder jeden. Es fällt auf, wenn man nicht wählen geht. Und für die Ermittlung, ob man dann für die richtige Partei abgestimmt hat, da sind die Bulgaren besonders erfinderisch. Das lässt sich leicht feststellen, ohne jetzt hier auf die Maschen einzugehen.
Viel wichtiger scheint mir hier, auf die Resonanz dieser Reportage einzugehen. Und einzuräumen, das sie nicht die erste und vermutlich nicht die letzte dieser Art bleiben wird. Die Resonanz fand ausschließlich in den Medien statt. In Privatgesprächen fand sie kaum Beachtung. Die Nichtwähler haben sich in ihrer Überzeugung nur bestätigt gefühlt, dass ihre Stimme nichts wert ist. Bis solche Aufdeckungen ihre Wirkung zeigen, braucht es viel Zeit und viel Aufklärung. Es braucht eine demokratische Moral, die wir 25 Jahre nach der totalitären Zeit wohl noch nicht haben. Auch Strafmaßnahmen haben keine Wirkung. Seit einigen Jahren steht der Stimmenkauf und –verkauf als Straftat im Strafgesetzbuch. Jede Wahlwerbung endet seitdem mit dem sonderbaren Satz: "Wer Stimmen kauft oder verkauft, macht sich strafbar." Dieser Hinweis ist im Wahlkampf öfter zu hören, als der berühmte Satz über die Risiken und Nebenwirkungen bei der Arzneiwerbung. Jeder kennt ihn inzwischen auswendig. Und überhört ihn. Schlimmer noch – man macht sich kaum Gedanken darüber. Schon gar nicht in den Randgruppen, wo der Stimmenkauf blüht. Denn die soziale Not macht aus den Menschen überzeugte Nichtdemokraten.
Mit dem Hochhalten von Moral haben selbst etablierte Medien in Bulgarien nicht viel am Hut. Seit 1997 veröffentlicht ein privater Radiosender auf seiner Homepage die Ergebnisse der Nachwahlbefragung der Meinungsforschungsinstitute, die als Liederwettbewerb getarnt werden. So steht z.B. für die sozialistische Partei ein Lied aus der glorreichen Zeit des entwickelten Sozialismus, ein türkisches Volkslied – für die Partei der bulgarischen Türken, das Lili-Marleen-Lied – für die nationalistische Parlamentspartei Ataka, usw. Diesem Beispiel folgten später auch andere Medien, wie etwa eine private Nachrichtenagentur, die sich eine Bestsellerliste nach dem gleichen Prinzip ausgedacht hatte. Das verstößt natürlich gegen das Wahlgesetz, demnach keine vorläufigen Wahlergebnisse vor der Schließung der Wahllokale zu veröffentlichen sind, um die Wähler nicht zu beeinflussen. Aber was soll's – man ist halt erfinderisch. Viel schlimmer sogar – man ist stolz auf die Erfindung, wie man das Gesetz umgehen kann. Das ist grundsätzlich ein sonderbarer Stolz der Bulgaren, die den Spruch haben: "Das Gesetz ist ein Tor im Feld – wer verrückt ist, soll durchs Tor laufen."
Und so kommen wir zur niedrigen Wahlbeteiligung, die wohl von den großen Parteien mit ihren ekelerregenden Machenschaften jeden halbwegs intelligenten Menschen von den Wahlurnen fernhalten. Vermutlich sogar mit Absicht, um ja keine bösen Überraschungen in der Wahlnacht zu erleben. Die jetzige bulgarische Regierung regiert mit der Zustimmung von knapp einem Fünftel der Bulgaren. Die niedrige Wahlbeteiligung macht es möglich. Die Entscheidungsträger jeder Gesellschaft, die jungen und gebildeten Menschen, geben ihr Wahlrecht leichter Hand auf. Und bleiben lieber zu Hause. Von ihrem Wahlrecht machen die Stammwähler Gebrauch – der Sozialisten, der Antikommunisten, der Türkenpartei.
Und auch die bedrohlich vielen Enttäuschten gehen zur Wahl – für sie findet sich immer eine frisch aus der Taufe gehobene Populistenpartei. Auch dieses Mal gibt es so eine Formation, eine zukunftslose Partei von zusammengewürfelten Taugenichts. Auf der heimischen politischen Bühne sind sie keine Neulinge. Sie sind in aller Öffentlichkeit gescheiterte Populisten, die durch nichts geglänzt haben und sich deshalb nirgendwo eingliedern konnten. Selbst die glanzlose politische Elite Bulgariens hat sie hinausgeschleudert, wie die Waschmaschine das schmutzige Wasser in den Abflusskanal. Aber genau diese glanzlose politische Elite ist daran schuld, dass es in Bulgarien immer wieder zu einer Protestwahl der totalen Verneinung kommt. Warten wir die Wahlergebnisse am Sonntag ab. Aber die EU-Wahl 2014 wird keine Ausnahme sein.
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