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140 Jahre Verfassung von Tarnowo

Staatsarchivdirektor Gruew: „Die Prinzipien der Tarnowo-Verfassung würden wir auch heute noch gern haben!“

Nachdem der 1878 wiedererstandene bulgarische Staat seine ersten Atemzüge der Freiheit genoss, schmiedeten seine Politiker die erste Landesverfassung. Sie hatten keinerlei Erfahrungen in Staatsangelegenheiten, waren jedoch beseelt von Enthusiasmus, Verantwortung und Vaterlandsliebe und schufen ein Grundgesetz, das selbst in Europa seinesgleichen suchte. Am 16. April 1879 verabschiedeten die Abgeordneten eine der demokratischsten Verfassungen seiner Zeit. Damit kündigte Bulgarien an, dass es ein selbständiger Staat ist, der seinen Weg selbst bestimmen will.

Die Gründungsversammlung wurde am 10. Februar 1979 in der alten bulgarischen Reichshauptstadt Tarnowo einberufen. Als Abgeordnete wurde die damalige Elite der bulgarischen Wiedergeburtszeit gewählt – Persönlichkeiten, die sich im Kampf um eine eigenständige Kirche sowie eine neubulgarische Bildung und Kultur verdient gemacht hatten. Anwesend waren auch Vertreter jener bulgarischen Landesteile, die auf Beschluss des Berliner Kongresses außerhalb der Landesgrenzen des neugegründeten bulgarischen Staates geblieben waren. Daher wurde der Gedanke der nationalen Vereinigung des Vaterlandes häufig in den Mittelpunkt der Debatten gerückt.

Das Museum „Wiedergeburt und Verfassungsgebende Versammlung“ in Weliko Tarnowo / Foto: Zdrawka Masljankowa

Es wurden Stimmen laut, die die Legitimität der Gründungsversammlung in Frage stellten, weil bedeutende ethnisch-bulgarische Territorien jenseits des Grenzen des Fürstentums Bulgariens geblieben waren“, erzählte uns Dozent Michail Gruew, Direktor des Staatsarchivs. „Daher wurde zumindest zu Beginn die sogenannte „Gesamtbulgarische Frage“ in den Vordergrund gerückt. Den Vätern der Verfassung von Tarnowo wurde jedoch klar, dass zuerst die bulgarische Staatlichkeit einer Legitimierung bedarf und so gingen sie das Verfassungsprojekt an. Die Idee der russischen Verwaltung bestand darin, dass Bulgarien ein beschränktes Statut besitzen müsse, ähnlich dem der autonomen Territorien des Russischen Reiches. Den bulgarischen Abgeordneten schwebte jedoch eine Verfassung vor Augen, die das Begehren der Bulgaren nach nationaler Unabhängigkeit widerspiegelt. Und so arbeiteten sie den Vorschlag des russischen Juristen Sergei Lukijanow grundlegend um – aus einem beschränkten Statut wurde eine demokratische Verfassung im Geiste der modernsten und fortschrittlichsten Länder Europas.

Die zweite grundlegende Frage, die die Gründungsversammlung zu lösen hatte, war die Wahl einer neuen Hauptstadt. Die einstige mittelalterliche Reichshauptstadt Tarnowo genügte nicht mehr den Anforderungen der Neuzeit. Wenn auch mit einer Stimme mehr, wurde Sofia zur wichtigsten bulgarischen Stadt erklärt. „Die Wahl fiel auf Sofia, weil es eine zentrale geographische Lage aus der Sicht einer nationalen Einheit einnimmt, da man davon ausging, dass die Abspaltung von Mazedonien und Ostrumelien nur ein vorübergehender Zustand sei.“ Während die Debatten um die Legitimierung des neuen Landes liefen, bildeten sich zwei Ideenströmungen heraus: Liberale und Konservative. Aus diesen Kreisen gingen später die Staatsmänner hervor, die für ihre Heimat ehrbar und mit dem nötigen intellektuellen Elan wirkten.

Es kam zu Zusammenstößen, nicht nur verschiedener Ansichten über den Aufbau der Gesellschaft, sondern auch zwischen markanten Persönlichkeiten“, erzählt weiter der Historiker. „In der Gründungsversammlung hoben sich Männer, wie Petko Slawejkow und Marko Balabanow hervor, die bereits vor der Befreiung des Landes von der osmanischen Fremdherrschaft hochangesehene Bulgaren waren. In den Verfassungsdebatten machten aber auch andere Intellektuelle von sich Reden, wie Petko Karawelow und Konstantin Stoilow – Persönlichkeiten, die bleibende Spuren nicht nur im Grundgesetz des Landes, sondern auch innerhalb der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Bulgariens vom Ende des 19. Jahrhunderts hinterlassen haben.

Wladimir Palausow, Petko Karawelow und Sergei Lukijanow / Foto: BTA

Laut Michail Gruew könne man selbst heute noch von ihnen lernen. Sie waren sich der Bedeutung und des Maßstabs ihres Werks voll auf bewusst. „Die Idee der Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Gewaltenteilung und die Freiheit der Persönlichkeit sind Prinzipien, die in der Verfassung von Tarnowo fest verankert sind, die wir mit Stolz auch heute noch gern haben würden.“

Die Wanderausstellung des Staatsarchivs „Alles liegt in unseren vereinten Kräften“ verdeutlicht die Vorbereitung und Arbeit der bulgarischen Gründungsversammlung. Die Exposition soll am 3. Mai in der bulgarischen Schwarzmeerstadt Burgas gezeigt werden, bevor sie wieder nach Sofia zurückkehrt, wo sie sich an der „Museumsnacht“ am 18. Mai beteiligen wird. Die Sofioter und Gäste der Stadt werden dann die Gelegenheit haben, das Original der Verfassung von Tarnowo aus nächster Nähe zu sehen.

Foto: BTA

Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow



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